Trend-Diagnosen vs. Realität – Warum das Bagatellisieren neurologischer Erkrankungen echten Betroffenen schadet
- Christiane
- 10. März
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. März

In den sozialen Medien scheint es derzeit fast schon ein Trend zu sein, sich selbst Diagnosen wie ADHS, Autismus oder Hochsensibilität (Neurodivergenz) zuzuschreiben. Wer Schwierigkeiten im Alltag hat, sich überfordert fühlt oder einfach mal seine Ruhe braucht, findet schnell eine „Erklärung“ in einer dieser Bezeichnungen. Doch was bedeutet das für Menschen, die tatsächlich mit einer fundierten Diagnose leben? Ich kenne die Realität aus erster Hand: Meine Tochter hat das Angelman-Syndrom und ist tatsächlich von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen. In diesem Beitrag möchte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die zunehmende Bagatellisierung dieser Erkrankungen echten Betroffenen enorm schadet.
Es gibt viele Gründe, warum sich immer mehr Menschen mit neurologischen oder psychischen Diagnosen identifizieren – oft ohne eine fundierte medizinische Abklärung:
Identitätssuche: Viele Menschen suchen nach einer Erklärung für ihre Schwierigkeiten oder ihr Anderssein. Eine Diagnose wirkt oft wie eine Antwort auf Unsicherheiten und gibt ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.

Selbstdiagnosen durch Social Media: Plattformen wie Instagram oder TikTok verstärken diesen Trend, da Algorithmen immer mehr Inhalte ausspielen, die den eigenen Verdacht scheinbar bestätigen. Viele Influencer teilen ihre persönlichen Erfahrungen mit Diagnosen, was für Außenstehende den Eindruck erweckt, dass sie sich mit denselben Symptomen identifizieren können, ohne eine ärztliche Abklärung zu benötigen.
Fehlendes Wissen über die tatsächlichen Kriterien: Die Symptome werden oft verallgemeinert dargestellt („Jeder hat mal Konzentrationsprobleme, also habe ich wohl ADHS“), was die Diagnosen verwässert. Viele wissen nicht, dass neurologische Erkrankungen spezifische diagnostische Kriterien haben, die weit über gelegentliche Konzentrationsprobleme oder soziale Unsicherheiten hinausgehen.
Soziale Akzeptanz von Schwächen: Während früher Perfektion betont wurde, gibt es heute einen Gegentrend: Wer „neurodivergent“ ist, gehört dazu und darf sich von bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen distanzieren. Dies führt dazu, dass Menschen sich eher als „anders“ oder „besonders“ wahrnehmen, anstatt einfach nur mit den alltäglichen Herausforderungen des Lebens umzugehen.
Verstärkende Erzählmuster in Medien und Gesellschaft: In Filmen, Serien und Büchern werden oft Charaktere mit ADHS oder Autismus als außergewöhnlich talentiert, hochintelligent oder besonders kreativ dargestellt. Dies kann dazu führen, dass Menschen sich mit diesen positiven Aspekten identifizieren und eine Selbstdiagnose als eine Art Identitätsmarker annehmen.
Einfache Erklärung für persönliche Herausforderungen: Viele suchen nach einem Grund für ihre Schwierigkeiten im Leben – sei es soziale Unsicherheit, mangelnde Disziplin oder emotionale Herausforderungen. Eine Diagnose kann eine scheinbar einfache Antwort liefern und als Entlastung dienen, anstatt sich mit tieferliegenden Ursachen oder strukturellen Problemen auseinanderzusetzen.
Was für den Einzelnen wie eine harmlose Selbstbeschreibung wirkt, hat für Menschen mit einer realen Diagnose ernsthafte Konsequenzen:

Bagatellisierung der Erkrankungen: Wenn „jeder ein bisschen Autist“ ist, dann scheint Autismus plötzlich nichts Besonderes mehr zu sein – dabei kann diese Diagnose für Betroffene tiefgreifende Herausforderungen mit sich bringen.
Weniger Verständnis für echte Symptome: Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS kämpfen mit weit mehr als nur gelegentlicher Zerstreutheit oder sozialer Unsicherheit. Sie haben mit neurologisch bedingten Einschränkungen zu tun, die ihren Alltag massiv beeinflussen.
Gefährliche Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung: Wenn man Autismus nur als eine „interessante Art zu denken“ darstellt, wird ignoriert, wie komplex und herausfordernd das Leben für Betroffene und ihre Familien sein kann.
Ressourcenmangel in Therapie und Unterstützung: Wenn jeder sich selbst diagnostiziert und Therapieangebote beansprucht, wird es für diejenigen, die tatsächlich Hilfe benötigen, noch schwieriger, Unterstützung zu bekommen.
Überlastung von Fachärzten und Spezialisten: Die Trendwelle führt dazu, dass Fachärzte mit Menschen überflutet werden, die sich selbst eine Diagnose gegeben haben und nun eine Bestätigung suchen. Dadurch verlängern sich die Wartezeiten für echte Betroffene enorm, und diejenigen, die dringend auf eine fundierte medizinische Einschätzung angewiesen sind, müssen oft monatelang auf einen Termin warten.
Was kann man tun?
Bewusstsein schaffen: Wir müssen die Unterschiede zwischen echten Diagnosen und Social-Media-Trends klar benennen!
Bildung fördern: Mehr Wissen über neurologische und genetische Erkrankungen kann helfen, Missverständnisse zu vermeiden!
Respekt zeigen: Statt sich leichtfertig mit Diagnosen zu schmücken, sollten wir echte Betroffene und ihre Herausforderungen ernst nehmen!

Natürlich soll niemandem abgesprochen werden, sich selbst besser verstehen zu wollen. Aber wenn eine Social-Media-Welle dazu führt, dass echte Erkrankungen verharmlost werden, ist das ein Problem. Es ist Zeit, bewusster mit diesen Themen umzugehen und den Menschen zuzuhören, die tatsächlich mit einer fundierten Diagnose leben – anstatt jede Schwierigkeit des Lebens mit einer Mode-Diagnose zu erklären. Keine Lust zu haben, einen Witz nicht witzig zu finden oder einfach ein Arschloch zu sein, ist keineswegs ein Hinweis auf eine Erkrankung. Denn, um es in harten Worten zu sagen:
Schlechtes Benehmen, Ignoranz und Faulheit sind oft lediglich Symptome einer mangelhaften Sozialisation oder des Fehlens von Verantwortung – sie sind keine Krankheiten. Es ist wichtig, diese Verhaltensweisen nicht mit echten, diagnostizierten Zuständen wie Autismus oder neurodivergenten Eigenschaften zu verwechseln. Wer sich bequem in der Opferrolle suhlt und nicht bereit ist, sich zu ändern, blockiert wertvolle Ressourcen, die tatsächlich Menschen zugutekommen sollten, die keine Wahl haben. Du hast diese Wahl – andere nicht.
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